Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute in vier Urteilen seine Auffassung zur Vorratsdatenspeicherung fortgeschrieben, konkretisiert und zum Teil neu ausgerichtet:
Zunächst hält der EuGH an der vorrangigen Geltung des EU-Rechts, konkret der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (Richtlinie 2002/58/EG), gegenüber nationalem Recht fest. Nationale Regelungen, die Anbietern elektronischer Kommunikationsdienste vorgeben, Verkehrs- oder Standortdaten zu speichern und diese für die Zwecke der nationalen Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste weiterzugeben, sind daher an EU-Recht zu messen.
Im Hinblick auf die Frage, ob EU-Länder die Betreiber von Kommunikationsdiensten zur Speicherung und Übermittlung von Kommunikationsdaten zwingen können, hat der EuGH seine Rechtsprechung aus 2016 nunmehr gelockert.
Bislang hatte der EuGH stets eine umfassende Regelung zur Speicherung der Telekommunikationsdaten auf Vorrat als unverhältnismäßig zurückgewiesen, soweit keine Einschränkungen auf bestimmte Anlässe durch bestimmte Zielrichtungen, etwa mit Blick auf besondere Personengruppen oder örtliche Begrenzungen, vorgegeben sind. Auch weiterhin stellt die anlass- und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen dar, weil kein Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Personen, deren Daten betroffen sind, und dem mit der fraglichen Regelung verfolgten Zweck vorliegt.
Der grundrechtlich garantierte Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation steht der unbegrenzten Speicherung auf Vorrat aber nach Auffassung des Gerichts dann nicht entgegen, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer ernsthaften Bedrohung seiner nationalen Sicherheit gegenübersieht, die sich als tatsächlich und gegenwärtig oder vorhersehbar erweist. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn schwere Straftaten oder Angriffe auf die nationale Sicherheit aufzuklären sind, bzw. soweit bereits bestehende Angriffe zumindest vermutet werden können. Eine Anordnung, mit der die Anbieter elektronischer Kommunikationsdienste allgemein und unterschiedslos zur Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten verpflichtet werden, ist in solchen Fällen somit nicht ausgeschlossen.
Das höchste europäische Gericht hat in seiner Entscheidung konkrete Verfahren aus Frankreich, Belgien und Großbritannien behandelt. Derzeit liegen noch zwei Verfahren, die die deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung betreffen, beim EuGH zur Entscheidung.
Hierzu Prof. Dr. Johannes Caspar, der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit: „Es ist zu erwarten, dass das heutige Urteil des EuGH die politischen Diskussionen um die Vorratsdatenspeicherung neu entfacht. Der EuGH hat den ‚alten Zombie‘ wieder ins Leben zurückgeholt. Es kommt jetzt darauf an, die aktuelle Rechtsprechung, die bislang nur in Form einer Pressemitteilung vorliegt, und die sich daraus ergebenden Folgen für die digitalen Grundrechte wie auch die künftige Sicherheitsgesetzgebung in ihrem Spannungsverhältnis zueinander genau zu analysieren.“
[Quelle: Pressemitteilung des Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit vom 06.10.2020]
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